Ambidextrie im Produktmanagement: Wie du zwischen Delivery-Druck und Zukunftsstrategie nicht zerrieben wirst

Ambidextrie im Produktmanagement: Wie du zwischen Delivery-Druck und Zukunftsstrategie nicht zerrieben wirst
Ein Montag zwischen zwei Welten
Es ist Montagmorgen, 9:15 Uhr. Anna, Senior Produktmanagerin bei einem mittelständischen Elektrowerkzeugehersteller, klappt ihren Laptop auf. Noch vor dem ersten Schluck Kaffee trudeln schon die ersten Nachrichten ein. Der Vertrieb fragt nach einer individuellen Lösung für einen wichtigen OEM Kunden. Der Customer Support meldet ein Problem mit dem letzten Release. Und aus dem Controlling kommt die Bitte, die Umsatzprognose für das laufende Quartal zu aktualisieren.
Zwischen all dem Chaos klebt am Rand ihres Bildschirms ein gelber Post-it: „Workshop-Planung für Q3-Innovationstrack starten“. Seit zwei Wochen klebt der da!
Anna ist nicht unorganisiert. Sie ist einfach gefangen in dem, was viele Produktmanagerinnen und Product Manager heute erleben: einen ständigen Spagat zwischen dem Hier und Jetzt – und der Frage, wie das Produkt auch in zwei Jahren noch relevant sein kann.
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Ambidextrie – zwei Denksysteme, ein Job
Der Begriff Ambidextrie stammt ursprünglich aus der Organisationsforschung und bezeichnet die Fähigkeit, zwei eigentlich widersprüchliche Handlungslogiken gleichzeitig zu beherrschen: Exploitation – das Ausschöpfen bestehender Ressourcen, Prozesse und Produkte – und Exploration – das Erkunden von Neuem, das Entwickeln innovativer Lösungen und das Sichern der Zukunftsfähigkeit. Quasi beidhändiges Arbeiten. Den Begriff hatte ich vor einigen Jahren auch das erste Mal gehört, als mich @marc scherer im Rahmen seiner Master Thesis darauf aufmerksam gemacht hat. Kurz darauf haben wir in einem Podcast darüber näher gesprochen.
Im Produktmanagement zeigt sich Ambidextrie besonders deutlich: Einerseits müssen bestehende Produkte performant, zuverlässig und kundenzentriert weiterentwickelt werden – und natürlich auch kommerziell am Markt performen. Andererseits gilt es, neue Märkte zu erschließen, Trends zu bewerten, innovative Features zu testen – kurz: in die Zukunft vorauszudenken.
Diese Dualität ist kein Luxus, sondern essenziell für nachhaltigen Produkterfolg und damit der Home Turf eines jeden strategischen 360° Produktmanagers.
Warum Ambidextrie heute wichtiger ist denn je
In Zeiten ökonomischer Unsicherheit – ob durch Inflation, geopolitische Krisen, Handelsstreitigkeiten wie aktuell oder stagnierendes Wachstum – verschieben sich in vielen Unternehmen die Prioritäten. Budgets werden gekürzt, Teams verkleinert, Initiativen auf den Prüfstand gestellt. Der Ruf nach kurzfristigem Erfolg wird lauter: mehr Conversions, schnellere Releases, geringere Kosten. Nicht wenige Produktmanager aus der Community sind gerade mit der Suche nach neuen Fertigungsstätten betraut.
Strategische Initiativen hingegen haben es schwer. Sie bringen erst später Ergebnisse, bergen Unsicherheiten – und lassen sich schwerer messen. Das gilt umso mehr, wenn sie nicht zum Core-Business zählen wie beispielsweise digitale Services oder IoT-Produkte. In der Folge geraten sie oft unter die Räder.
Doch genau hier liegt die Gefahr: Unternehmen, die ausschließlich auf Exploitation setzen, werden effizienter – aber nicht besser. Sie optimieren sich in eine Sackgasse. Ohne Exploration droht Stillstand. Und wer im volatilen, digitalen Marktumfeld stehenbleibt, wird überholt.
Die Herausforderungen der Ambidextrie im PM-Alltag
Ambidextrie klingt theoretisch elegant – praktisch ist sie anstrengend. Für Profis im Produktmanagement ergeben sich daraus mehrere konkrete Herausforderungen.
1. Kontextwechsel
Das Umschalten zwischen operativen und strategischen Aufgaben ist mental aufwändig. Nach drei Bug-Tickets plötzlich in Marktanalysen oder Zukunftsszenarien denken? Das kostet Energie und Fokus – und oft geht etwas verloren. Das erinnert mich auch ein wenig an meine Arbeit als Personalberater.
2. Zeitdruck
Das Daily Business dominiert oft den Kalender. Bugs, Stakeholder-Calls, Dailies / Weeklies, Releases – alles ist dringend. Strategie hingegen ist selten dringend, aber langfristig entscheidend. Wir kennen das vom berühmten Eisenhower-Prinzip.
3. Stakeholder-Erwartungen
Vertrieb, Support und Geschäftsführung haben unterschiedliche Prioritäten. Während Sales kurzfristige Kundenbedürfnisse priorisiert, erwartet das Leadership-Team Vision und Innovation. PMs sind häufig in der Mitte – und müssen navigieren.
4. Messbarkeit und Anerkennung
Operative Arbeit lässt sich leicht tracken: Tickets erledigt, Preislisten bereinigt, Monats-Report versendet. Strategische Arbeit hingegen ist diffus. Wie misst man „ein gutes Gespräch mit einem potenziellen Nutzer von morgen“? Wie bewertet man im Hier und Jetzt den Erfolg einer Produkt Roadmap?
5. Teamdynamik
Nicht nur PMs, auch Teams schwanken zwischen Delivery-Fokus und Innovationsfreude. Wenn strategische Arbeit nicht im Prozess verankert ist, wirkt sie wie zusätzlicher Workload. Alle wollen strategisch arbeiten, stöhnen aber, wenn es gilt, Raum in der Wochenplanung dafür freizuschaufeln.
“Was tun sprach Zeus”? Wie kann man als PM mit Ambidextrie umgehen?
Ambidextrie ist nicht nur ein Organisationsthema – sie beginnt bei jedem einzelnen Produktmanager, bei Dir persönlich. Hier einige konkrete Ansätze, wie du die Balance besser managen kannst. Meine aktuelle Umfrage aus dem Frühjahr 2025 unter 273 Produktmanagern und Führungskräften im PM hat ergeben, dass das PM-Gebäude hier gerade etwas fragil ist und die operativen Aufgaben im Moment die strategischen deutlich überwiegen.
1. Plane bewusst Räume für Exploration ein
Strategische Arbeit passiert nicht „nebenbei“. Plane feste Zeitfenster für strategische Aufgaben: Wettbewerbsbeobachtung, User Research, Markttrends, Business Model-Reflexion. Blocke diese Slots im Kalender – und behandle sie wie Fixtermine. Und verteidige sie wie eine Löwin ihre Löwenbabys.
Tipp: Nimm dir z. B. jeden Freitagvormittag nur für „Zukunftsarbeit“. Auch ein monatlicher Strategy-Sprint kann helfen.
2. Trenne systematisch Delivery und Discovery
So bleibt Raum für Innovation – ohne dass der Delivery-Zug stehenbleibt. Wichtig: Discovery ist kein Luxus. Es ist Teil deiner Produktentwicklung – auch wenn das Ergebnis mal keine fertige Produktvariante ist.
3. Schaffe Sichtbarkeit für strategische Arbeit
Dokumentiere und teile strategische Initiativen: Research-Erkenntnisse, Validierungsergebnisse, neue Hypothesen. So wird Exploration sichtbarer – und erhält mehr Relevanz bei Stakeholdern.
Beispiel: Halte einmal im Quartal ein „Zukunfts-Review“ mit deinem Team oder deinen Stakeholdern. Vielleicht kannst Du sogar Kunden einladen. Zeige, woran du arbeitest – auch wenn es noch keine Features gibt. Auch eine tolle Möglichkeit, Feedback zu Deinen Ideen zu sammeln.
4. Nutze unterschiedliche Formate und Denkmodi
Exploitation funktioniert oft linear: Was ist das Problem? Wie lösen wir es effizient?
Exploration braucht Raum für Unsicherheit: Welche Probleme könnten morgen relevant sein? Wo könnten Chancen liegen?
Schaffe Formate für beide Modi. Z. B. klassische Kanban-Boards für Delivery, und explorative Methoden wie Opportunity Solution Trees, MindMaps, Lean Canvas oder Jobs-To-Be-Done für strategische Arbeit.
5. Baue ein belastbares Stakeholder-Narrativ auf
Strategische Arbeit muss erklärt werden. Entwickle ein Narrativ, das deine langfristige Produktvision mit den Zielen Deiner Organisation verknüpft.
Statt: „Wir brauchen Zeit für Discovery.“
Lieber: „Wenn wir diesen Markt nicht erkunden, könnte uns Anbieter X in 12 Monaten abhängen.“
Sprich die Sprache der Stakeholder – und argumentiere mit deren Zielsystemen. Zeig auf, dass Exploration nicht identisch mit Forschung im Elfenbeinturm ist.
6. Definiere strategische KPIs
Ergänze deine Metriken durch Frühindikatoren für Exploration:
• Anzahl durchgeführter Interviews
• Anzahl validierter Hypothesen
• Anzahl getesteter neuer Use Cases
• Conversion Rate bei MVPs
Diese KPIs machen strategische Arbeit greifbarer – und zeigen Fortschritte auch ohne fertige Features.
7. Pflege deinen eigenen Fokus
Ambidextrie braucht Klarheit. Reflektiere regelmäßig: Wofür bin ich gerade da? Arbeite ich am Produkt von heute oder an dem von übermorgen? Welche Aufgaben kann ich delegieren? Welche Prioritäten muss ich setzen? Suche Dir Tools, die Dich dabei unterstützen.
Fazit: Ambidextrie ist keine Wahl – sie ist der Job
Die Fähigkeit, gleichzeitig Bestehendes effizient weiterzuentwickeln und Neues mutig zu erkunden, ist heute keine Kür mehr – sie ist Pflicht. Produkte müssen im Jetzt funktionieren und für das Morgen vorbereitet sein.
Für Produktmanager:innen bedeutet das: nicht entweder/oder, sondern sowohl/als auch. Nicht jeden Tag perfekt ausbalanciert – aber mit System, Reflexion und Klarheit über den eigenen Fokus.
Die gute Nachricht: Du musst das nicht allein schaffen. Schaffe Strukturen, baue Allianzen, nutze Methoden. Und erinnere dich regelmäßig daran: Es ist okay, nicht in jedem Moment alles zu schaffen. Aber wenn du beides nie machst, wird dein Produkt bald keines mehr sein.